Textprobe
Vorwort zu Robert Walser

 

Aus: Robert Walser. Die Tragik der fröhlichen Desintegration, M.A., Münster 1994


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I. IDENTITÄT UND "MODERNE"

"Von etwas in einem fort Verlorengegangenem"

In Wirklichkeit ist eine auf die rein subjektiven Aspekte beschränkte Identitätskrise auch nicht weiter interessant. Es wäre viel besser, den objektiven Bedingungen ins Auge zu sehen, deren Symptom sie ist und die sich in ihr spiegeln. Aber dem geht man natürlich gern aus dem Wege und beschwört statt dessen lieber, was der psychologische Discounthandel an Gespenstern im Angebot hat.

(Claude Lévi-Strauss)

Wird mit den Kategorien der philosophiegeschichtlichen Moderne die Bildung des individuellen Bewußtseins in seiner Übereinstimmung zum gemeinschaftlichen Selbstverständnis als die Bedingung der Freiheit gedacht , formuliert die ästhetische Moderne den Zweifel am einmal gesetzten Maßstab eines einheitlichen Sinns, "für den in der Epoche der großen bürgerlichen Kunst die Einheit des geschlossenen Werks ebenso stand wie die Einheit des individuellen Ich. Die ästhetische Aufklärung entdeckt in der Einheit des traditionellen Werks wie in der Einheit des bürgerlichen Subjekts ein Gewaltsames, Unreflektiertes und Scheinhaftes." Ist die historische Erfahrung die der gesellschaftlichen Antagonismen, tritt in der ästhetischen Reflexion an die Stelle des Primats vom Ganzen der Zweifel an eben den Kategorien, die einmal mehr versprochen haben als einen "kleinen Platz", worin das Individuum neben anderen sich "ergehen könne". In ihrer Negativität kann Kunst nicht individuelle Refugien suggerieren, ohne der herrschenden Praxis zu erliegen, indem die Werke durch ihre "Besonderung die herrschende Allgemeinheit der verwalteten Welt zu vertuschen" suchen.
Die Abkehr von der repressiven Einheit des bürgerlichen Subjekts und der Identitätsvorstellung, die eben dieser zugrundeliegt, spiegeln sich in den immanenten Problemen der ästhetischen Form. Die Heterogenität des Materials wird zum ästhetischen Garanten des Besonderen, das in eine der empirisch-historischen Wirklichkeit fremde Ganzheit synthetisiert und zur Präsenz einer sinnlichen Anschauung gebracht wird. Die Frage jedoch, ob dadurch ein neuer Typus der Synthesis qualitativ absehbar wird, markiert die Auseinandersetzung, welche die Bewertung moderner Kunst, die Bestimmung ihres 'Wahrheitsgehalts' und die theoretische Perspektive der ästhetischen Wertung in ihren heuristischen Kategorien tangiert.
Ob "im willkürlichen Jonglieren mit verschiedenstem Sprachmaterial" sich eine "Subjektivität ins Spiel bringt", die gerade darin ihre "Souveränität" zu behaupten weiß - das heißt, die Möglichkeit eines Subjekts zu behaupten, statt sich an der normativen Idee des selbstbestimmten Subjekts kritisch auszurichten -, ist dann auch die Frage, die durch das Werk Robert Walsers in seiner prätendierten Widersprüchlichkeit evoziert wird. Die Dissonanz der ästhetischen Struktur gerät zum Bannkreis der Rezeption, die im wesentlichen auf drei Ebenen den Versuch unternimmt, sich der Problematik der Walserschen Prosa zu nähern. Annette Fuchs unterscheidet hier kategorial die (a) existentialistisch-substantialistische von der (b) individualpsychologischen bzw. psychoanalytischen und der (c) poetologisch-strukturellen Methodik, die, was die Strukturmerkmale und -prinzipien der Texte betrifft, insbesondere in den letzten Jahren zu haltbaren Ergebnissen und Einzelbeobachtungen geführt hat. Zu ergänzen wäre diese Einteilung um einige wichtige motivgeschichtliche Arbeiten zum Herr-Diener-Verhältnis und den in der Rezeption nur wenig berücksichtigten Versuch Hans G. Helms', "zu einem korrekten und gesellschaftlich wirksamen Verständnis" des Werks "auf der Basis seiner objektiven sozialen Lage zu gelangen" . Auffallend bleibt die Tendenz, die in der stets wiederkehrenden Vermengung ästhetischen Materials mit bloß Biographischem zum Ausdruck kommt. In dem Maße, wie das Werk sich in die problematische Existenz des Autors verflüchtigt, wird Walser selbst oder eben der, für den man ihn hält, zur Figur literarisiert. Gegen diese Praxis sei an die Abwehr einer falschen Vertrautheit erinnert, wie sie Walser in einem seiner Kurzprosastücke formuliert: "Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich." (R 83) Daß Walsers Texte mit "primär ästhetischen Kategorien zu beschreiben" sind, führt Annette Fuchs als richtiges Argument gegen die psychoanalytisch orientierten Ansätze ins Feld, gegen die Banausie, welche die "Negativität aus der Kunst in die Triebkonflikte ihrer Genese verbannt und am Resultat unterschlägt" , gegen die, denen die vermeintliche Geistesstörung der Autoren zum Besonderen wird, um das Besondere der Texte authentisch und widerspruchslos zu bezeugen. Erklärt wird eben damit freilich nichts. "Gleichgültig zu welcher Entscheidung man auch käme, man würde in jedem Falle den literarischen Text bzw. das literarische Oeuvre notwendig zum bloßen Symptom erklären, das eine klinische Diagnose erfordert." Entgegen einer solchen negativ-biographischen Methode endet dann aber quasi positiv auch die Analyse Annette Fuchs' in der Legitimation des Biographischen, wenn sie dem Autor Walser attestiert, daß "Clownerie und Narrentum" für ihn "allegorische Äquivalente des Schreibens" seien. Das ästhetische Produzieren wird zum Repertoire der besonderen Lebensqualität des Autors. Walser "gibt sich damit die Bestimmung, mit den Wortkomödien, Sprachfaxen und vielfältigen Inszenierungen seiner Prosa spielerisch seine ästhetische Freiheit in einer zunehmend verwalteten Welt zu behaupten." Ausgesprochen wird somit nur der Traum des anderen Lebens, das mit Hilfe autobiographischer Elemente dann in die Realität installiert werden soll. "Die Phantasmagorie einer von Zwecken ungestörten ästhetischen Welt verhilft der unterästhetischen zum Alibi." Die nachholende Harmonisierung des Inkommensurablen nivelliert die Brüche, die sich erst zwischen dem Text und seinem jeweiligen historischen Kontext konkretisieren und auf das deuten, was noch immer die Souveränität und Selbstbestimmung des Subjekts als historisch mögliche lähmt.

"Verzerrt ist die imago des Künstlers als des tolerierten: in die arbeitsteilige Gesellschaft eingegliederten Neurotikers." Diese Tendenz versucht sich zu legitimieren durch die zahlreichen Darstellungen und Kommentare Walsers, mit denen die postume Verzahnung von Autobiographie und Werk gedeiht. "Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können." (FdK 322) Im materialisierten Produkt jedoch, dem "Buch" eben, wird auf die Bedeutung verwiesen, die in der Relation von relevanten Werkstrukturen und externen Bedingungen aus den "Interessen der Gegenwart" erst der Interpretation zugänglich gemacht werden muß. Die Ausrichtung der Rezeption am biographischen "Ich" verschleiert, was als ästhetisch Vorgestelltes eben nicht ist und was als historisch Verhindertes erst zur Erkenntnis führt.

Statt des "Romans" werden in dieser Arbeit die Romane behandelt, die paradigmatisch als jeweils besondere ästhetische Objektivationen das modellieren, was als gefährdetes schon gänzlich zu verschwinden droht: die Identität eines "Ichs"; das Selbstbewußtsein in gewaltfreier Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der Gemeinschaft, der Begriff des Selbst, der nicht mehr isolierte und konkurrierende Individuen meint, sondern vielmehr die menschliche Gemeinschaft als Gemeinschaft von Gleichen, die Integrität also, in der das besondere Individuum die äußere Realität und Allgemeinheit nicht als fremde und gewaltsame erfährt. Indem die vorliegende Arbeit den skizzierten Maßstab als historischen begreift, bleibt dieser kritisch gegen sich selbst gerichtet. Entgegen einem normativen Konzeptualismus, der einen philosophischen Maßstab als absoluten in der Abbildung auf literarische Texte lediglich verdoppelt, wird der Begriff der Identität selbst im Verlauf der Arbeit stets spezifiziert. Er bleibt Gegenstand und Instrument der Untersuchung zugleich. "Die Definition evolutioniert: wie das literarische Faktum." Notwendig ist die Analyse der Antinomien, welche die Begriffe in ihren Ansprüchen und ihrer Funktionalität bezeichnen. Identität - Gleiches gilt für Arbeit und Bildung - unterliegt in ihrem Verständnis einer Dialektik von utopisch-kritischen und radikal-affirmativen Konnotationen. Schwieriger noch gestaltet sich das Verhältnis von Integration und Desintegration in bezug auf gesellschaftliche und individuelle Interessenlagen. Gesellschaftliche Integrationsbemühungen können ein Surrogat realer Desintegration darstellen, das heißt einer gesamtgesellschaftlich forcierten Vereinzelung der Individuen innerhalb der sozioökonomischen Organisationsformen zugrundeliegen.

Die Grundlagen der ästhetischen Bewertung und die literarhistorische Textanalyse treten so in ein dialektisches Verhältnis, ohne freilich das eigene Erkenntnisinteresse aufzuheben: die Suche nach der adäquaten Form der Gesellschaftlichkeit freier und gleichberechtigter Individuen; die Analyse der in der kritischen Reflexion von Vergangenheit auf die Möglichkeiten der Zukunft relevanten Identitäts- bzw. Subjektvorstellungen. "Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder soviele wie Verstecke." Robert Walsers Romane "Jakob von Gunten" (1909), "Der Gehülfe" (1908) und der aus dem Nachlaß herausgegebene "Räuber"-Roman - 1925 entstanden - variieren die Problematik subjektiver Identität unter bestimmten historischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen. Als ästhetische Modellierung dieser Kategorien transformieren sie den historischen Standpunkt in einen ästhetischen "Blickpunkt", der "dem Text eine bestimmte Orientiertheit im Hinblick auf sein Subjekt" verleiht. So konstituiert der Text in seinen Strukturen zudem das Modell einer historischen Identität, eines projektiven Selbstbewußtseins durch Elemente des historischen Materials.

Die Organisation der heterogenen Strukturelemente in der ästhetischen Form partizipiert an der Bedeutung des Werkes selbst und wird zum "Besonderen" in dem Maße, wie die konstruktive Verfahrensart die Imagination eines Sinnganzen, die formale Identität, verdrängt. Die Zusammenfügung der disparaten Einzelmomente in der Romanprosa Walsers berührt die Grenze positiven Sinns durch eine Dialektik der Paradoxien, die jedoch die Krise des Sinns im gesellschaftlichen Ganzen bürgerlicher Provenienz reflektieren. "Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form" . Je weniger sich zudem die verwendeten Topoi der Komplexion des einzelnen Werkes einfügen - signifikant für das Spiel mit einem traditionellen Formen- und Bilderrepertoire in den genannten Romanen -, desto radikaler die Destruktion des traditionellen Anspruchs auf Sinn überhaupt. Wird am dialektischen Charakter von ästhetischem Modell und historischem Material festgehalten, verbleibt der Kunst als dem Potential eines kritischen Bewußtseins keine Alternative. "Die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung der Kunst durch Demontage des Anspruchs", die Kunstwerke "wären, was sie nicht sein können und was sie doch wollen müssen." Der Argumentation Adornos folgend, bleibt hier ein Anderes, das negativ auf die Möglichkeit einer veränderten Organisationsform der Gesellschaft verweist. Obwohl Kunst die der "Empirie kategorial aufgeprägten Bestimmungen" negiert, birgt sie doch "empirisch Seiendes in der eigenen Substanz" , wird zum "Statthalter einer besseren Praxis". Trotz aller hervorgebrachten Ambivalenzen hält Adorno letztlich an der möglichen Überwindung der spätkapitalistischen Totalität und ihrer Antagonismen fest, verankert er in der Negation der modernen Kunst die utopisch-emanzipatorischen Potentiale einer selbstbestimmten Subjektkonstitution außerhalb der Leere einer bloß abstrakt-begrifflichen Identität.

Die ausführlichere Auseinandersetzung mit der Argumentation Adornos zur kulturellen Moderne erklärt sich zum einen aus der Tatsache, daß hier in entwickelter Weise die Instrumentarien einer der Moderne verpflichteten ästhetischen Theorie formuliert sind, zum anderen aber - und hier beginnt die notwendige Reflexion über die theoretischen Prämissen selbst - durch die zunehmende Kritik an den utopischen Potentialen modernen Ursprungs, wie sie im postmodernen Diskurs sich ankündigt. In der aktuellen Konfrontation werden der Begriff und die Bewertung von 'Identität' bzw. 'Subjekt' zum Kristallisationspunkt eines angeblichen 'Paradigmenwechsels'. Gegen das Autonomiepostulat der Moderne und seinen ganzheitlichen Rationalitätsanspruch wird eine Subjektivitätsvorstellung und ein Denken propagiert, die der Vielfalt heterogener Bedeutungswelten Rechnung tragen sollen. Die 'Freiheit' zur Differenz tritt an die Stelle einer einheitlichen Selbstkonstitution, wie sie mit dem Begriff der Identität gesetzt ist. "Die Kunst hat (...) neue Bedeutung gewonnen, sofern sie unsere Grundverfassung - eben die der Pluralität - so nachhaltig zur Erfahrung bringt wie kein anderes Medium sonst. Von daher vermag einem ästhetisch geschulten aisthetischen Denken auch Orientierungs- und Handlungskompetenz für diese Welt zukommen. Denn wer mit der Verfassung und den Geboten der Pluralität von Grund auf vertraut ist, der vermag sich in einer Situation realer Pluralität angemessen zu bewegen." Ob die Erfahrung von Heterogenität auch die Idee oder Utopie einer Identität von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Gesellschaft desavouiert, da sie der Lebenswelt als unerfüllbare Sollensforderung gegenübersteht, gilt es zu reflektieren. Keine vorschnelle Positionsbestimmung, sondern der Versuch einer produktiven Umsetzung der skizzierten Argumente bestimmt die vorliegende Auseinandersetzung mit Texten Walsers, die in ihrer "Auflösung der Totalität und des großen Stils" bereits für die Postmoderne vereinnahmt worden sind. Insofern gehen die gefährdete Identität und die Fragmentarisierung des Subjekts als historische Phänomene über in die theoretische Reflexion, in dem Maße, wie der Anspruch auf die Einforderung einer anderen Wirklichkeit problematisiert wird.

Neben der Textinterpretation steht so die weitergehende Reflexion theoretischer Diskurse, welche die Vermittlung von ästhetischem Phänomen und methodischem Bewußtsein explizieren, da auch für die Bedingungen einer Methode zur "Selbstverständlichkeit" zu werden droht, "daß nichts", was sie betrifft, "mehr selbstverständlich ist, (...) nicht einmal ihr Existenzrecht." Das Verfahren legitimiert sich vor dem Hintergrund einer bisher nur unzureichend geführten Methodendiskussion der Literaturwissenschaft, womit die Reflexion der eigenen theoretischen Position um so wichtiger wird. Die Romane Walsers werden als eine Trilogie gefaßt, die auf der Grundlage verschiedener historischer Erfahrungen das Experiment der Identitätssuche ästhetisch figurieren, das heißt primär unter den Erfahrungen einer sozioökonomischen Epochenschwelle und dem den Kategorien der bürgerlichen Moderne verhafteten gesellschaftlichen Bewußtsein. Allgemein gerät subjektive Identität damit in ein Dilemma, das dem der modernen Kunst in Abgrenzung zur traditionellen gleicht. "Die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung" individueller Identität durch Demontage des Anspruchs, sie wäre, was sie nicht sein kann und was sie doch wollen muß. Das hier abgewandelte Diktum Adornos reflektiert die Demonstration der individuellen Nichtigkeit durch den Totalitätsanspruch der Gesellschaft, während die individuelle Erfahrung sich notwendig "auf das alte Subjekt, das historisch verurteilte, das für sich noch ist, aber nicht mehr an sich" bezieht. Walsers Romane thematisieren diese Ambivalenz in den Kategorien 'traditioneller' Identitätsbildung: der Bildung des Bewußtseins im Bewußtsein der Bildung, der individuellen Arbeit im Verhältnis zu historisch-ökonomischen Organisationsformen, der erwarteten Entwicklung des Selbst in der intersubjektiven Verständigung und Ausrichtung auf die Projektionen und Bilder des Selbst innerhalb der gesellschaftlichen Möglichkeiten - oder ihrer Unmöglichkeiten. So oszillieren die Texte in der Abbildung von Wirklichkeit zwischen Ideal und Ideologie, zwischen einstmals Intendiertem und historisch Gewordenem, zwischen dem erwarteten Selbst - und dem längst verlorengegangenen.

Thorsten Pannen